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Auf dieser Seite veranstalten Erde und Mond eine Revolution …
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Gezeiten, Wattenmeer, Ebbe, Flut sind allgemein bekannte Begriffe und jeder weiß, dass die Anziehung des Mondes für die Gezeiten verantwortlich ist. Aber wie genau geht das vor sich?
Zur Veranschaulichung der durch den Mond hervorgerufenen Gezeiten stellen wir uns vor, die Erde sei vollständig von einem Ozean umgeben (Abbildung 1a). Die Erde ist Teil des Dreiersystems Erde–Sonne–Mond. Wie jede Masse üben auch diese drei Himmelskörper Gravitationskräfte auf die jeweils anderen aus. Meist betrachtet man die Gravitationskraft so, als würde sie nur im Schwerpunkt des Körpers angreifen und fasst den Körper als Punktmasse auf. Und oft reicht das auch – bei der Untersuchung der Gezeiten jedoch nicht. Gezeitenkräfte entstehen, weil zum einen die Erde keine Punktmasse, sondern eine ziemlich ausgedehnte Masse ist, und weil zum anderen das Gravitationsfeld des Mondes mit der Entfernung zu ihm abnimmt (wie jedes Gravitationsfeld).
Das führt dazu, dass die Mondgravitation nicht über die gesamte Ausdehnung der Erde dieselbe Stärke hat. Je weiter ein Ort auf der Erde vom Mond entfernt ist, desto schwächer wirkt dessen Gravitation. Die Abnahme der Anziehung durch den Mond verläuft kontinuierlich über die Erdkugel, zur Verdeutlichung habe ich in Abbildung 1 jedoch nur 3 Punkte dargestellt: die Anziehung auf der mondzugewandten Seite der Ozeanoberfläche, im Erdmittelpunkt (dem Schwerpunkt) und auf der mondabgewandten Seite der Ozeanoberfläche (Abbildung 1b). Für alle anderen Punkte der Erde gilt das Gesagte aber natürlich auch entsprechend.
Auf der dem Mond zugewandten Seite der Erde ist die Mondgravitation also stärker als im Erdmittelpunkt, auf der dem Mond abgewandten Seite der Erde ist sie schwächer als im Erdmittelpunkt.
Die dem Mond zugewandten Wassermassen werden deshalb stärker angezogen als der Erdmittelpunkt, die vom Mond abgewandten Wassermassen werden weniger stark angezogen als der Erdmittelpunkt. Das führt zu einer Deformation des Ozeans, das Wasser bildet auf beiden Seiten je einen Flutberg – auf der dem Mond zugewandten Seite wird es vom Ozeanboden weggezogen in Richtung Mond; auf der abgewandten Seite wird ihm gewissermaßen „der Boden unter den Füßen weggezogen“ und das Wasser bleibt hinter dem Boden zurück.
Zur Erdoberfläche hat der Wasserspiegel des Ozeans also in beiden Fällen einen größeren Abstand, das heißt, sowohl auf der mondabgewandten als auch auf der mondzugewandten Seite entsteht ein Flutberg.
Die Mondanziehung am Erdmittelpunkt ist quasi der „Normalzustand“ für die Mondanziehung (blau in Abbildung 1c), die Gezeitenkräfte sind der Überschuss (mondzugewandt) bzw. das Defizit (mondabgewandt) der Mondanziehung bezogen auf diesen „Normalzustand“
Entscheidend ist daher der Unterschied zwischen der Gravitation am mondzugewandten Ozean und der am Erdmittelpunkt bzw. der Unterschied zwischen der Gravitation am mondabgewandten Ozean und der im Erdmittelpunkt. (Abbildung 1d)
Da die Wassermenge insgesamt aber nicht größer wird, muss zum Ausgleich zwischen den beiden Flutbergen der Meeresspiegel tiefer liegen als bei einem Ozean, der nicht durch Gezeitenkräfte verformt wird (Abbildung 1e), hier liegen gewissermaßen „Ebbetäler“.
Für einen Beobachter auf der Erdoberfläche wirken auf beiden Seiten der Erde nach außen ziehende Gezeitenkräfte. Diese Gezeitenkräfte sind die Differenz zwischen der Gravitation im Schwerpunkt (Erdmittelpunkt) und der Gravitation auf der mondab- beziehungsweise der mondzugewandten Erdseite (Abbildung 1d).
Der Mond ist nicht der einzige Himmelskörper, der Gezeiten auf der Erde verursacht – auch die Sonne verursacht Gezeiten, die allerdings nur etwa halb so groß sind wie die des Mondes. Zwar ist das Gravitationsfeld der Sonne am Ort der Erde größer als das des Mondes, aber das Feld der Sonne ist hier sehr viel gleichmäßiger als das des Mondes. Das Mondgravitationsfeld nimmt über der Ausdehnung der Erde sehr viel stärker ab.
Die Flutberge kamen zustande, weil „Vorder-“ und „Rückseite“ der Erde unterschiedlich stark angezogen werden. Es kommt also auf den Unterschied in der Stärke der Gravitation zwischen „vorn“ und „hinten“ an. Und dieser Unterschied in der gravitativen Anziehung zwischen zu- und abgewandter Seite der Erde ist für den Mond größer als für die Sonne.
Stehen Mond und Sonne nun in einer Linie (bei Neumond und Vollmond, siehe Erde – Sonne – Mond), „ziehen“ beide gleichzeitig in derselben Richtung an den Wassermassen. Die Gezeitenkräfte beider Himmelskörper addieren sich also und damit auch die Flutberge beider Gezeiten – es kommt zu einer Springflut. Bei Halbmond sind die Gezeitenkräfte von Sonne und Mond, und damit auch die Flutberge von Sonnen- und Mondgezeiten um 90° gegeneinander versetzt. Jetzt addieren sich also jeweils Flutberge der einen Gezeiten zu „Ebbetälern“ der anderen. Da, wo der Mond den Meeresspiegel ansteigen lässt, senkt die Sonne ihn; und wo die Sonne ihn hebt, senkt der Mond ihn. In der Summe überwiegt der Einfluss des Mondes (da dessen Gezeitenkräfte ja stärker sind), aber die Sonnengezeiten schwächen die Mondgezeiten ab und es kommt zur Nippflut.
Mond und Sonne verformen also den Ozean. Dass wir an den Küsten nun regelmäßig auf- und ablaufendes Wasser beobachten können, liegt an der Erddrehung. Da der Mond – und mit ihm der Flutberg – in einem Monat einmal um die Erde wandert, die Erde sich aber einmal pro Tag um sich selbst dreht, dreht sie sich unter den Flutbergen hindurch (Abbildung 2). Ein Ort auf der Erdoberfläche erreicht also mit der Erddrehung etwa alle 12,5 Stunden einen Flutberg – was dann dort so aussieht, als stiege und fiele das Wasser alle 12,5 Stunden.
Der Mond geht wie die Sonne im Osten auf und im Westen unter, demzufolge wandert auch der Flutberg von Ost nach West über die Erde hinweg. Allerdings beziehen sich die Erklärungen zu den Gezeiten immer auf den offenen Ozean, im Idealfall ganz ohne Landmassen. Wenn die Meere aber durch Landmassen und Küstenlinien in Becken und Buchten gepresst werden, wird alles komplizierter, weil die Küstenlinien die Strömung des Wassers beeinflussen.
So läuft beispielsweise an der ostfriesischen Küste die Flutwelle entgegengesetzt von West nach Ost. Das liegt daran, dass die Nordsee „nur“ ein Randmeer des Atlantiks ist. Der Flutberg läuft zwar von Osten her über den Atlantik – wie es sich gehört –, aber die Wassermassen schwappen dann vom Atlantik (auch) in das Becken der Nordsee. D. h., in die Nordsee kommt der Flutberg aus Richtung Atlantik, also von Westen. Und läuft dann ostwärts weiter.
Das Wasser der Nordsee hat selbst natürlich auch einen Flutberg, der auch „brav“ mit dem Mond von Ost nach West läuft, er ist aber zu klein, um sich im Vergleich mit den in Gegenrichtung hereinströmenden Wassermassen des Atlantiks bemerkbar zu machen.
Den Höhenunterschied zwischen Hochwasser – also dem maximalen Wasserstand – und Niedrigwasser – dem minimalen Wasserstand nennt man Tidenhub. „Flut“ heißt dagegen das Ansteigen, „Ebbe“ das Sinken des Wasserstandes. (Insofern passt der Ausdruck „Ebbe in der Kasse“ für eine leere Kasse eigentlich nicht.) Auf dem offenen Ozean beträgt der Tidenhub etwa 50 cm, 80 cm bei Springflut, 30 cm bei Nippflut. Geografische Gegebenheiten wie Tiefe und Form der Meeresbecken beeinflussen den Tidenhub, so beträgt er beispielsweise in der Nordsee bis zu 4 m. Durch den Wechsel des Wasserstandes entstand an der Nordseeküste das Wattenmeer, ein ganz besonderes Ökosystem. Einen deutlich kleineren Tidenhub hat beispielsweise die Ostsee – der Anstieg von gut 10 cm ist am Strand nicht zu bemerken, weshalb die Ostsee kein Wattenmeer hat. Dafür muss sich der Badeurlauber nicht nach dem Gezeitenkalender richten.
Bisher haben wir nur das Wasser betrachtet, weil es dessen An- und Absteigen ist, was bei den Gezeiten mit bloßem Auge beobachtet werden kann und weil das im Allgemeinen mit „Gezeiten“ in Verbindung gebracht wird. Aber nicht nur die Meere weisen einen Gezeitenhub auf, auch der feste Erdkörper (der so fest nämlich nicht ist) hebt und senkt sich im Rhythmus der Gezeiten und bildet einen Ellipsoid. Am Äquator beträgt der Höhenunterschied 40 cm, in mittleren Breiten 10 bis 20 cm.
Der Mond umkreist die Erde. Eine solche Bewegung auf einer Umlaufbahn ist ein freier Fall, auch wenn das auf den ersten Blick abwegig anmutet, da man einen freien Fall normalerweise mit einem senkrecht nach unten gerichteten Fall in Verbindung bringt. Lassen wir also mal einen Stein nach unten fallen und nehmen an, er lege in der ersten Sekunde 2 m nach unten zurück. Im nächsten Schritt soll er nun nicht nach unten, sondern horizontal weggeworfen werden, und zwar von derselben Höhe aus wie im ersten Versuch. Auch beim horizontalen Wurf wird der Stein von der Erde angezogen und fällt ihr entgegen – seine Bahn ist also eine Überlagerung aus dem horizontalen Wurf und dem Fall. Auch für diesen Fall gilt, dass er in der ersten Sekunde 2 m nach unten zurücklegt (zusätzlich zu seiner Bewegung in horizontaler Richtung), da die Bewegung des freien Falls dieselbe ist wie sie es ohne horizontale Bewegungskomponente war. Denn der freie Fall wird nur von der Gravitation der Erde verursacht, die von der Horizontalgeschwindigkeit völlig unabhängig ist.
Beim dritten Versuch wird der Stein sehr schnell in der Horizontalen weggeworfen. Seine Horizontalgeschwindigkeit soll so groß sein, dass er, wenn er sich nach der ersten Sekunde 2 m tiefer befindet, so weit vorangekommen ist, dass sich die Erdkrümmung bemerkbar macht. Wir können in diesem Gedankenexperiment die Horizontalgeschwindigkeit des Steins genau so groß wählen, dass die Erdoberfläche sich auf der horizontal zurückgelegten Strecke gerade so weit nach unten wegkrümmt, dass der Abstand zwischen Stein und Erdoberfläche immer noch der ursprüngliche ist. Der Stein ist der Erdoberfläche also trotz Fallens nicht näher gekommen. Auf diese Weise fällt der Stein um die Erde herum.
Der Mond fällt also ständig auf die Erde zu. Nach dem dritten newtonschen Gesetz fällt aber genauso auch die Erde auf den Mond zu. Genau genommen fallen beide auf den gemeinsamen Schwerpunkt zu, der wegen der sehr viel größeren Masse der Erde noch innerhalb des Erdkörpers liegt.
Da es gerade die Schwerkraft ist, die einen fallen lässt, klingt es im ersten Moment seltsam, dass ausgerechnet der freie Fall ein Zustand der Schwerelosigkeit sein soll. Aber was heißt denn „schwerelos“?
Schwerelos ist ein Körper dann, wenn er auf eine mit ihm fallende Unterlage keine Kraft ausübt. Setzen wir uns also mal in einen Kasten und lassen den Kasten mit uns frei fallen. Nun muss man wissen, dass alle Körper in einem Gravitationsfeld gleich schnell fallen (irgendwelche Reibungseffekte lassen wir mal weg, dann wäre der Fall auch kein freier mehr). Wir werden beim freien Fall also gegenüber dem Kasten weder abgebremst noch beschleunigt. (Das folgt aus der Gleichheit der trägen und schweren Masse, aber das würde hier zu weit führen.) Der Kasten um uns herum fällt genauso schnell wie wir – das bedeutet, wir schweben in diesem Kasten und werden nicht an seinen Boden gedrückt, wie dies in einem Kasten auf der Erdoberfläche der Fall wäre. (Auf der Erdoberfläche zieht die Gravitation der Erde den Kasten, genauso aber auch uns selbst nach unten. Da die Abwärtsbewegung aber von der Erdoberfläche aufgehalten wird, spürt man den Druck der Erdoberfläche bzw. des Kastenbodens.)
Im wirklich schwerefreien Raum – irgendwo im Weltall fernab von allen Gravitationsfeldern – würde man ebenfalls frei im Kasten schweben und der Kasten um einen herum. Ist der Kasten nun völlig abgeschlossen, können wir also nicht hinaussehen, können wir nicht unterscheiden, ob die Ursache für das Schweben im freien Fallen von Kasten und uns oder in der Abwesenheit von Schwerefeldern liegt. Die Fallbeschleunigung im freien Fall hebt die Wirkung der Gravitation auf. Im Kasten können wir die Gravitation nicht mehr feststellen, mit welcher Messung auch immer. Für uns ist die Gravitation damit nicht vorhanden.
Einen Körper frei fallen zu lassen, ist im Grunde genommen die einzige Möglichkeit, ihn in schwerelosen Zustand zu versetzen. Da die Gravitation unendliche Reichweite hat, kann es im Universum keinen Ort geben, der weit genug von allen Massen entfernt ist, um wirklich frei von Gravitationskräften zu sein.
Zurück zu Mond und Erde. Im freien Fall spürt die Erde die Schwerkraft des Mondes also nicht – allerdings gilt das nur im Schwerpunkt der Erde, dem Erdmittelpunkt. Nur dort herrscht Schwerelosigkeit. Da die Mondgravitation nicht über die gesamte Ausdehnung der Erde dieselbe Stärke hat, müsste also eigentlich jeder Teil der Erde mit seiner eigenen Fallbeschleunigung fallen. Da die Erde aber ein zusammenhängender Körper ist, bleibt ihren Bestandteilen nichts anderes übrig, als trotzdem als Ganzes mit der im Schwerpunkt herrschenden Fallbeschleunigung zu fallen. Wenn also der Erdmittelpunkt frei fällt, tun dies Bereiche näher am bzw. weiter weg vom Mond nicht – sie fallen zwar, aber nicht frei, sondern werden „in den freien Fall des Schwerpunktes“ gezwungen.
Da die dem Mond zugewandte Seite eine stärkere Gravitation spürt, würde ihr freier Fall einer größeren Fallbeschleunigung entsprechen als derjenigen im Erdmittelpunkt. Sie fällt also dadurch, dass sie an den Erdmittelpunkt gebunden ist, gegenüber ihrem eigenen freien Fall mit zu kleiner Beschleunigung. Deshalb spürt sie die Differenz zu ihrer eigenen „natürlichen“ Fallbeschleunigung als Beschleunigung auf den Mond zu. Bei der abgewandten Seite ist es umgekehrt. Diese spürt eine Beschleunigung vom Mond weg. Eine Beschleunigung zu spüren ist nichts anderes als eine Kraft zu spüren – das sind wieder die Gezeitenkräfte.
Während ihrer Drehung unter den Flutbergen weg übt die Erde Reibungskräfte auf das Wasser aus und hängt wie ein Bremsklotz an den Flutbergen. Diese Reibung nennt man Gezeitenreibung. Die Flutberge können der Wanderung des Mondes um die Erde nicht mehr zeitgleich folgen und werden ein wenig aus der direkten Linie zum Mond herausgedreht. Der Mond will die Flutberge zurückziehen und übt ein Drehmoment aus. Dieses ständige Zurückziehen der Flutberge durch den Mond wirkt wiederum auf die Erde – es verursacht eine Abbremsung der Erdrotation, da über die Reibung die Erde eben auch an das Wasser gekoppelt ist und sich nicht so schnell drehen kann, wie sie möchte, wenn das Wasser sich nicht widerstandlos mitdreht. Eine allmähliche Abbremsung der Erdrotation bedeutet aber nichts anderes als eine Zunahme der Tageslänge.
Die Tageslänge nimmt in hundert Jahren um wenige Millisekunden zu, das heißt, dass ein Tag vor 400 Mio. Jahren etwa 2 Stunden kürzer war als heute. Entsprechend hatte das Jahr 400 Tage. Vor 4 Mrd. Jahren betrug die Tageslänge etwa 6 Stunden.
Eine langsamere Erddrehung bedeutet wiederum einen geringeren Drehimpuls. Andererseits muss der Gesamtdrehimpuls des Systems Erde–Mond natürlich erhalten bleiben. Wenn also der Drehimpuls der Erddrehung abnimmt, muss anderswo Drehimpuls dazukommen. Deshalb nimmt gleichzeitig der Bahndrehimpuls des Mondes zu. Der Drehimpuls ist abhängig vom Abstand, den die drehende Masse von der Drehachse hat, eine Zunahme des Mondbahndrehimpulses äußert sich also in einem Anwachsen des Bahnradius des Mondes, und zwar um derzeit etwa 4 cm pro Jahr.
Hier finden Sie eine Geschichte zu Gezeiten und Tageslänge
Eine häufige Erklärung der Gezeiten ist die, dass Gravitation und Fliehkraft (Zentrifugalkraft) dabei zusammenwirken. Da die Fliehkraft über die gesamte Erde gleich groß ist, die Mondgravitation aber nicht, bleiben Restkräfte übrig, die die Gezeiten bewirken.
Bei dieser Erklärung muss man sich jedoch darüber im Klaren sein, dass die Flieh- oder Zentrifugalkraft eine Scheinkraft ist. Scheinkräfte entstehen, weil Körper aufgrund ihrer Massenträgheit das „Bedürfnis“ haben, ihre momentane Bewegung beizubehalten. Sitzt man in einem Karrussell, meint man, nach außen gegen den Sitz gedrückt zu werden. In Wirklichkeit möchte der eigene Körper seine momentane Bewegung beibehalten, diese ist aber tangential zur Kreisbewegung gerichtet: Würden die Ketten reißen, würde man nicht etwa radial nach außen, sondern tangential zur Kreisbewegung nach vorn fliegen. Weil die Ketten dank der TÜV-Untersuchung nicht reißen, verhindert der Sitz das. In Wirklichkeit drückt also der Sitz gegen einen (und nicht umgekehrt). Dass sich die „tangential-vorwärts“-Bewegung wie eine „radial-nach-außen“-Bewegung anfühlt, liegt daran, dass man sich im rotierenden Bezugssystem des Karrussells befindet und die Kreisbewegung für einen daher nicht existiert (siehe Abbildung 7).
Langer Rede kurzer Sinn: Befindet man sich in einem rotierenden (genauer: beschleunigten) Bezugssystem, nimmt man so genannte Trägheits- oder Scheinkräfte wahr, wie bspw. die Zentrifugalkraft. Diese existieren im nicht-rotierenden Außenraum nicht (daher die Bezeichnung „Scheinkräfte“) – während bspw. die Zentripetalkraft, die über die Ketten die Karrusselsitze auf die Kreisbahn zwingt, in beiden Bezugssystemen existiert. In diesem Sinn sind die Scheinkräfte keine „realen“ Kräfte (was nicht bedeutet, dass es keine Folgen hat, wenn man in einer rasante Kurvenfahrt mit dem Kopf gegen die Außenwand knallt).
Erklärt man die Gezeiten also über die Fliehkraft, muss man genau wissen, dass man dabei so argumentiert, als säße man im rotierenden System (was man als Erdenbewohner ja auch tut). Für den neutralen Außenbeobachter existiert die Zentrifugalkraft nicht, er sieht nur die Gravitation, die als „reale Kraft“ die eigentliche Ursache der Gezeiten ist.
Die Fliehkraft, um die es hier geht, ist nicht die, die durch die Eigendrehung der Erde entsteht – sondern die, die aufgrund der Drehung von Erde und Mond um den gemeinsamen Schwerpunkt entsteht.
Es scheint auf den ersten Blick aber nicht einsehbar, wieso die Fliehkraft an jedem Punkt der Erde gleich groß sein soll, schließlich ist sie abhängig vom Abstand zur Drehachse, und diese scheint zunächst durch den Schwerpunkt des Systems Erde–Mond zu gehen. Das tut sie aber nicht für jeden Punkt der Erde. Zwar dreht sich der Schwerpunkt der Erde um den gemeinsamen Schwerpunkt von Erde und Mond, aber die anderen Punkte der Erde tun das nicht, wie man in Abbildung 7 sieht. Als Beispiel ist hier ein Haus eingezeichnet, und dieses wandert während der Drehung von Erde und Mond auf dem pinkfarbenen Kreis. Solche Kreise kann man nun für jeden Punkt der Erde konstruieren – und sie sind für alle diese Punkte gleich groß. Alle Punkte der Erde wandern also auf gleich großen Kreisbögen – womit auch die Fliehkraft für alle gleich groß ist.
Bei einer Rotation würde man erwarten, dass das Dach des Hauses immer radial nach außen gerichtet ist (unten rechts in Abbildung 7). Nun fällt bei dem Haus aber auf, dass sein Dach während der ganzen Bewegung nach „oben“ gerichtet ist. Diese Bewegung wird als Revolution bezeichnet. Hier hat jeder Punkt der Erde (und des Hauses! deshalb bleibt es aufrecht stehen) seine eigene Drehachse, um die er sich dreht. Alle Punkte haben denselben Abstand von ihrer Drehachse; in Abbildung 8 sind die pinkfarbene Bahn des Hauses und die schwarze des Erdmittelpunktes gleich groß. Bei einer Rotation dagegen drehen sich alle Punkte der Erde um dieselbe Drehachse, haben aber verschiedene Bahnradien und damit auch unterschiedliche Fliehkräfte.
Durch den Wechsel von Ebbe und Flut sieht an einer Küste mal mehr, mal weniger Land aus dem Meer heraus. Eine besondere Landschaftsform hat sich dadurch an der deutschen Nordseeküste gebildet. Als die Eiszeitgletscher schmolzen, stieg der Meeresspiegel – zum Ende der Eiszeit lag der Meeresspiegel deutlich niedriger, das Gebiet der heutigen Nordsee war trocken. Mit dem ansteigenden Meer kamen auch die Gezeitenströme weiter ins Landesinnere; von der Landseite her strömten Flüsse ins Meer. Beide, Gezeitenströme und Flüsse, brachten Sand und Gestein mit, das als Sediment vor der Küste abgelagert wurde. Zum Teil wurden dabei küstenparallele Wälle aufgehäuft, die sich zu Inseln und Sandbänken entwickelten. Diese Wälle schützten das Land dahinter vor den starken Strömungen – aus Wasser, das ruhiger strömt, lagert sich aber mehr Sediment ab. Das norddeutsche Wattenmeer besteht aus einem 10–20 m dickem Sediment aus Schlick und Sand. Dass sich die Sedimentschichten heute trotzdem als flacher Meeresboden mit geringem Gefälle zeigen und nicht etwa als Hochebene, liegt daran, dass die deutsche Küste sich senkt. (Diese Senkung ist eine Ausgleichsbewegung zur Hebung Skandinaviens. Die Hebung wiederum ist eine Folge der abnehmenden Auflast der Eiszeitgletscher.) Die Senkung des Geländes gleicht die Ablagerung der Sedimente beinahe aus.
Das Wattenmeer verändert sich nach wie vor. Inseln wandern, wenn der Mensch dies nicht durch Befestigungen zu verhindern sucht, wie beispielsweise Scharhörn, das sich um etwa 12 cm pro Jahr nach Südosten bewegt, weil Sand am einen Ende abgetragen und am anderen wieder angelagert wird.
Neben dem hier beschriebenen Sand- und Schlickwatt gibt es auch Felswatt mit felsigem Boden, beispielsweise vor Helgoland. Ein Felswatt entsteht nicht durch Sedimentation, sondern durch Erosion von Steilküsten. Die Brandung zernagt den aufragenden Fels und lässt eine ebene Plattform zurück, die dann bei Ebbe trocken fällt.
© Wiebke Salzmann, Juli 2009